Bericht: Musikunterricht in gesellschaftlicher Verantwortung

Eine Arbeitstagung zur Theorie und Praxis der Vermittlung von Kulturerbe der Internationalen Leo-Kestenberg-Gesellschaft, 1.–3. November 2023, Hannover.

Seit ihrer Gründung 2009 sieht sich die Internationale Leo-Kestenberg-Gesellschaft der Auseinandersetzung mit dem bildungs- und kulturpolitischen Wirken ihres Namensgebers, des deutsch-jüdischen Musikreformers Leo Kestenberg (1882–1962), verpflichtet. Ihre kürzlich eingegangene Verbindung mit dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Schwerpunktprogramm (SPP) „Jüdisches Kulturerbe“ nahm die Gesellschaft zum Anlass, in ihrer diesjährigen Arbeitstagung diesem Auftrag in zweifacher Weise nachzukommen: Unter dem Titel „Musikunterricht in gesellschaftlicher Verantwortung: Zugänge zu Kultur von und durch Musik. Eine Arbeitstagung zur Theorie und Praxis der Vermittlung von Kulturerbe“ widmete sich die Tagung dem Umgang mit Kulturerbe und seiner schulischen Vermittlung, wobei der Schwerpunkt auf dem jüdischen kulturellen Erbe lag. Die Leitfrage der Tagung galt der diskursiven Aushandlung gesellschaftlicher Verantwortung seitens Disziplinen wie Musikwissenschaft, Musikpädagogik und benachbarter Fächer vor dem Hintergrund gegenwärtiger gesellschaftspolitischer Entwicklungen. Auch aktuelle Diskurse zu Themen wie kulturelle Hegemonie, Erinnerungskultur, Dekolonisierung, Antisemitismus oder Rassismus wurden dabei aufgegriffen.

Die Tagung war eine Kooperationsveranstaltung des Europäischen Zentrums für Jüdische Musik der Hochschule für Musik Theater und Medien Hannover (EZJM) und der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd (PH Schwäbisch Gmünd). Tagungsort war die Villa Seligmann in Hannover, die als Haus für jüdische Musik und gelebte jüdische Kultur und zugleich Heimstätte des EZJM, des Koordinierungszentrums des SPP „Jüdisches Kulturerbe“, den passenden Rahmen für das Thema gab.

Den ersten Tag bestritt die Eröffnung der Tagung in Form einer Podiumsdiskussion, die auf drei Impulsthesen zum Tagungsthema Bezug nahm. Der Vorsitzende der Leo-Kestenberg-Gesellschaft und Präsident des Bundesverbandes Musikunterricht Jürgen Oberschmidt (Heidelberg) warf in seiner These „Musikunterricht heute: ein Ort der Angleichung, der Assimilation?!“ einen kritischen Blick auf die vorherrschenden musikdidaktischen Konzepte und Vorstellungen musikalischen Lernens. „Zukunftsorientierte Perspektiven für eine Bildungsarbeit durch Auseinandersetzung mit Formen des immateriellen jüdischen Kulturerbes“ war das Thema von Sarah M. Ross (Hannover), Sprecherin des SPP „Jüdisches Kulturerbe“ und Direktorin des EZJM. Ross setzte sich für die Vermittlung der jüdischen Binnenperspektive in Lehramtsausbildung und Schulunterricht ein. Die stellvertretende Vorsitzende der Leo-Kestenberg-Gesellschaft Ina Henning (Schwäbisch Gmünd) stellte in „Musikunterricht als Diversitätsmittler?“ Überlegungen zum Thema Diversität als eine mögliche Zielsetzung des Musikunterrichts an. In der anschließenden Podiumsdiskussion unter der Moderation von Ina Henning ergänzten Vertreter aus Wissenschaft und Politik (Sarah M. Ross; Jürgen Oberschmidt; Susanne Rode-Breymann, Präsidentin der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover; Rüdiger Eichel, Ministerium für Wissenschaft und Kultur; Christian Wulff, Bundespräsident a. D., Präsident des deutschen Chorverbandes) die Themen um weitere Sichtweisen.

Im Mittelpunkt der folgenden beiden Tage standen die Vorträge von 16 Expert:innen, die Ergebnisse ihrer aktuellen Forschung zum Thema vorstellten, darunter Vertreter:innen aus Musikwissenschaft, Musikpädagogik, Musikpraxis, Jüdischen Musikstudien, Geschichte, Kulturwissenschaft und dem Bildungswesen. Die Themen verteilten sich auf vier Sektionen und bewegten sich von biographischen Zugriffen über kultur- und sozialwissenschaftliche Ansätze bis hin zu Fragen der Repräsentation und Vermittlung jüdischer Themen.

Den Auftakt am zweiten Tagungstag bildete die Keynote von Sarah m. Ross, die der Tagung ihr Leitmotiv vorgab: „Jüdisches Kulturerbe als ein Verhältnis zum Selbst und zum Anderen“. Ross beleuchtete den Umgang mit jüdischem Kulturerbe in Deutschland, das nach 1945 von der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft zu einem Gegenstand des deutsch-nationalen Kulturerbes „gemacht“ wurde, indem es mit entsprechenden Bedeutungen und Werten aufgeladen wurde. Unter Einbeziehen philosophischer Thesen zum Erbe und zur Verantwortung für den Anderen regte Ross ein Neudenken des jüdischen Kulturerbes an, das auch theoretische Ansätze der Critical Heritage Studies und der Nachhaltigkeitswissenschaften einbezieht.

Die nachfolgende erste Sektion galt dem Thema Persönlichkeiten – Prägungen – Wirkungen. Unter Hinzuziehung reichen Quellenmaterials gelangen Dietmar Schenk (Berlin) mit seinem Vortrag „Leo Kestenberg in der Weimarer Republik: biographische Annäherungen“ grundlegende Einsichten in Leben und Wirken des Sozialisten und Musikreferenten im preußischen Kultusministerium, die das antisemitisch verzerrte Bild der Nationalsozialisten vom „Musikdiktator“ Preußens korrigieren. Christine Rhode-Jüchtern (Werther) widmete sich dem heute vergessenen Musikpädagogen und Kulturpolitiker Emil Breslaur. In ihrem Vortrag „Emil Breslaur (1836–1899): ‚Ein Leben zwischen Religion und Pädagogik‘“ zeichnete sie die lebenslange Verankerung des Protagonisten in jüdischer und christlicher Tradition nach und zeigte auf, wie er als Mitglied der Berliner Reformjudentums zu den jüdischen Reformen im Zeitalter der Emanzipation beigetragen hatte. „Irma Schoenberg Wolpe Rademacher – Pianistin, Pädagogin, Impulsgeberin“ war das Thema von Nora Born (Marzell/Toronto). Born gab Einblicke in das Leben der jüdischen Pianistin und Pädagogin Irma Wolpe Rademacher, geb. Schoenberg (1902–1984), besser bekannt als Ehefrau des Komponisten Stefan Wolpe. Der Vortrag suchte die Erinnerung an diese außergewöhnliche Musikerin wiederzubeleben und verstand sich zugleich als Würdigung ihres wenig beachteten Schaffens.

Kulturen – Transformationen – Formen der Aneignung lautete das Thema der zweiten Sektion. Sie wurde von einer zweiten Keynote eingeleitet: Markus Tauschek (Freiburg) thematisierte in seinem Vortrag „Kulturerbe und kulturelle Aneignung“ den mittlerweile inflationär gebrauchten Begriff der kulturellen Aneignung mitsamt seinen Implikationen. Tauschek diskutierte aus einer dezidiert sozialkonstruktivistisch-kritischen Perspektive heraus den Zusammenhang von kulturellem Erbe und kultureller Aneignung vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Herausforderungen und Problemstellungen.

In seinem Referat „Aneignung und Transformation. Zu Zustandsbeschreibungen und Prozessorientierungen beim Lernen“ wandte sich Andreas Eschen (Berlin) der Unterrichtspraxis zu. Am Beispiel von Unterrichtsmaterialien über Blues und Klezmer wies er nach, wie jede Phase des Lernprozesses von Vereinfachungen, verkürzenden stilistischen Zuschreibungen und kulturellen Dekontextualisierungen begleitet wird – mit Auswirkungen auf die mit dieser Musik assoziierten Menschen. Luisa Klaus (Bremen/Hannover) entführte das Publikum mit ihrem Vortrag „Hebraistische Folklore, staatstragende Musikforschung in Edith Gerson-Kiwis ‚Das israelische Dorf, seine Instrumente und Ensembles‘ (1955)“ in den neu gegründeten Staat Israel mit seiner sich formierenden nationalen Musikkultur. Vor dem Hintergrund von Leo Kestenbergs Ideen analysierte sie einen Beitrag zum israelischen Musikleben der deutsch-jüdischen Musikwissenschaftlerin Edith Gerson-Kiwi (1908–1992), die ebenso wie Kestenberg nach Palästina immigriert war und mit dem Musikreformer in engem Austausch stand.

Leo Kestenberg stand auch im Zentrum von Theda Weber-Lucks՚ (Berlin) Referat „Wer war der Musikpädagoge und Musikpolitiker Leo Kestenberg? Eine Annäherung über ZEITZEUGENGESPRÄCHE“. Weber-Lucks stellte die Ergebnisse einer Initiative im Rahmen des Leo-Kestenberg-Projekts vor: in den Jahren 2004/2005 im In- und Ausland geführte und auf Video mitgeschnittene Zeitzeugengespräche, die ein schillerndes Portrait des Musikreformers zeichnen.

Dem Thema Jüdische Bildungskontexte in Vergangenheit und Jetzt-Zeit galt die dritte Sektion, die von Laura Marie Steinhaus (Freiburg) eröffnet wurde. In ihrem Vortrag „Welche Gegenwart, welche Geschichte? Jüdische Lebenswelten und ihre Re-präsentation im Bildungskontext der UNESCO“ unterzog Steinhaus die UNESCO einer kritischen Betrachtung: Anhand der von der UNESCO erstellten „Bilderkarten zur Gegenwart und Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland“ wies sie nach, dass die Organisation bis heute maßgeblich darüber bestimmt, wie kulturelle Ausdrucksformen als Kulturerbe verstanden, dokumentiert und vermittelt werden. Friedhelm Brusniak (Würzburg) referierte über „Jüdische Chorvereinigungen in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert“. Er präsentierte seine Forschung zu jüdischen Männerchören und den Beitrag, den sie zur Entwicklung des deutschsprachigen Amateurchorwesen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts geleistet hatten.

Den dritten und letzten Tagungstag beschloss die vierte Sektion Wirkmechanismen – Konzepte pädagogischer Vermittlung. Eröffnet wurde sie von Aaron Eckstaedt (Berlin) mit einem Bericht aus der Praxis: „Die Jüdischen Oberschulen in Berlin – wie jüdische Religion und Kultur durch Musik vermittelt werden (sollen)“. Erst Anfang der 1990er Jahre, mit der Zuwanderung jüdischer Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion, wurden in Deutschland die ersten jüdischen Schulen nach der Schoa gegründet. Am Beispiel des Jüdischen Gymnasiums Moses Mendelssohn in Berlin, das sich der Vermittlung jüdischer Werte verpflichtet sieht, ging Eckstaedt der Frage nach, welche Rolle Musik bei dieser Vermittlung spielte und spielt.

Über „Jüdisch-musikalisches Kulturerbe in der Lehrer:innenbildung im Spannungsfeld von Normalisierung, Empowerment und Dekonstruktion“ referierten Frantz! Blessing (Schwäbisch Gmünd) und Ina Henning. Im Hinblick auf die inklusive Lehramtsausbildung stellten sie Forschungsergebnisse zu jüdischem Kulturerbe in Schulbüchern der Sekundarstufe für das Fach Musik vor und entwickelten auf dieser Grundlage einen heuristischen Rahmen für die Förderung inklusiver Perspektiven in der Lehrerprofessionalisierung.

Um „Machtdispositive in Händels Belshazzar und ihre musikpädagogische Relevanz“ ging es beim Vortrag von Gabriele Hofmann (Schwäbisch Gmünd). Die vielfältigen Verhandlungen der Themen Macht und Gewalt in Händels Oratorium nahm Hofmann zum Anlass für Überlegungen, diesen biblischen Stoff zeitgemäß erlebbar zu machen. Ausgehend von einer Inszenierung am Theater an der Wien (2023) zeigte sie verschiedene Möglichkeiten auf, wie der Stoff im musikpädagogischen Kontext von Schüler:innen in die Gegenwart transferiert und so bei den Jugendlichen ein kritisches Bewusstsein für Hegemonie, Antisemitismus, Kolonialisierung u. a. m. entwickelt werden kann. „Der Antisemitismus Wagners aus französischer Perspektive – Antijudaistische Stereotype in Johann Sebastian Bachs Passionskompositionen“ lautete das Thema, dessen sich Damien Sagrillo (Luxemburg) und Jürgen Oberschmidt angenommen hatten. Ihr Vortrag konfrontierte den Antisemitismus Richard Wagners, der in erster Linie über sein Pamphlet „Das Judenthum in der Musik“ greifbar ist, mit Bachs Passionsmusiken, die in Text wie Musik antijüdische Stereotype transportieren und spätestens im 19. Jahrhundert für antisemitische Propaganda genutzt wurden. Dennoch erklingen Bachs Passionen bis heute im Urtextgewand, wohingegen sich Inszenierungen von Wagners Opern stets kritisch mit dem deutschen „Volksgeist“ auseinandersetzen müssen, den der Komponist mit seinen Sujets heraufbeschwört. Neben Fragen wie diesen diskutierten Sagrillo und Oberschmidt neue Wege des Hörens und Verstehens der betreffenden Werke.

Eine Diskussion mit Leitfragen aus den drei Tagen beschloss die Tagung.

Mit der Engführung von „Musikunterricht in gesellschaftlicher Verantwortung“ und „jüdischem Kulturerbe“ vertrat die Tagung einen innovativen Ansatz, der die Breite, den Facettenreichtum und das Potential der Thematik zutage förderte. Die Zusammenführung musikpädagogischer und jüdischer Themen, die Gelegenheit zum Austausch zwischen Vertreter:innen unterschiedlicher Disziplinen, das hohe Niveau der Beiträge und die lebhaften Diskussionen lassen, so die einhellige Meinung der Teilnehmer:innen, eine Fortsetzung wünschenswert erscheinen.

Zum allseitigen Gelingen der Tagung trug nicht zuletzt das Rahmenprogramm bei: eine Führung durch die Villa Seligmann mit deren künstlerischem Direktor, Eliah Sakakushev von Bismarck; eine Ausstellung zu Leo Kestenberg in den Räumen der Villa Seligmann, organisiert und ergänzt mit medialen Aufbereitungen von Ausschnitten der Zeitzeugeninterviews zu Kestenberg von Studierenden der PH Schwäbisch Gmünd; zwei Workshops (Aaron Eckstaedt: „‚Gezunt zolst du zayn‘ – Lieder und Tänze als Marker jiddischer Kultur“; Jürgen Oberschmidt: „Zwischen den Welten: Gustav Mahler und Uri Caine“). Und als Krönung der Klavierabend „Jüdische KomponistInnen im Exil“ mit der Berliner Pianistin Irmela Roelcke, die ihr Publikum mit Werken von Ursula Mamlok, Arthur Schnabel, Ruth Schonthal, Mieczysław Weinberg und Stefan Wolpe begeisterte.

Regina Randhofer, Hannover

11. Dezember 2023