Konstruktionen jüdischen Erbes im Sinne wissenschaftlicher Dokumentation und Erforschung setzten im 19. Jahrhundert mit der Etablierung der „Wissenschaft des Judentums“ ein. Das Einbeziehen materieller Objekte jüdischer Kultur nahm an der Wende zum 20. Jahrhundert einen besonderen Aufschwung, als mit der Etablierung der „jüdischen Volkskunde“ jüdische Tradition und Kultur über ihre textlichen Grundlagen hinausgehend betrachtet wurden.
Zeitgleich entstehende Musiksammlungen jüdischer Kantoren (z. B. die Eduard Birnbaum Music Collection und Abraham Zvi Idelsohns Hebräisch-Orientalischer Melodienschatz [1914–1932]) machen deutlich, dass das „jüdische Sammeln“ nicht nur unterschiedlichen wissenschaftlichen, zionistischen und nationalen Interessen folgte, sondern dass dessen Wurzeln gleichsam in den ethischen Säulen des Judentums zu suchen sind, in halacha (Religionsgesetz) und zedaka (Wohltätigkeit). Die Motive und Intentionen jüdischen Sammelns unterscheiden sich somit grundlegend von denen, die heute der Mehrzahl der jüdischen Sammlungen zugrunde liegen. Historisch-wissenschaftliche und gegenwartspolitische Interessen griffen in der Praxis der Konstruktionen jüdischen Erbes bereits vor der Schoa ineinander. Im Rahmen des Vorhabens ist daher den Triebkräften und unterschiedlichen Manifestationen des „Sammelns“ und „Bewahrens“ als sine qua non der Konstruktion jüdischen Erbes nachzugehen: seinen primären Erscheinungsformen, seiner Säkularisierung beim Eintritt in die Moderne, seinen unterschiedlichen Ausprägungen in Mittel- und Osteuropa sowie seiner radikalen Neuausrichtung nach der Schoa.
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte in Deutschland und anderen europäischen Ländern ein neuer Prozess der Entdeckung und Bewahrung des jüdischen Kulturerbes der Vergangenheit ein. Dieser zielte vor dem Hintergrund der Vergangenheitsbewältigung und zögerlich einsetzenden Erinnerungskultur u. a. darauf ab, im „neuen Europa“ der Gegenwart ein Fundament für die Erneuerung jüdischen Lebens zu errichten. Nicht selten sind an die Maßnahmen zum Erhalt des jüdischen Kulturerbes Erwartungen wie Bekämpfung von Antisemitismus, Förderung kultureller Vielfalt und interkulturellen Dialogs oder die Bewahrung als fundamental betrachteter europäischer Werte wie Demokratie und Toleranz geknüpft. Die Ansätze sind so unterschiedlich wie die Vorstellung von dem, was jüdisches Kulturerbe ist und was mit ihm zu geschehen hat. Somit unterscheiden sich auch die Wahrnehmungen jenes Erbes und die Motive des Bewahrens: In Westeuropa wurde das Erinnern an das jüdische Kulturerbe im Allgemeinen und das Gedenken an die Schoa im Besonderen zum Eckpfeiler eines „europäischen Gedächtnisses“. Jüdisches Kulturerbe wird hier als tendenziell positiv, homogen und transnational wahrgenommen; der Aspekt der kulturellen Reparation steht im Vordergrund. Im postsowjetischen östlichen Europa hingegen, wo die Auseinandersetzung mit der Schoa und den zerstörten jüdischen Lebenswelten spät einsetzte, tritt jüdisches Kulturerbe eher national und damit vielfältiger in Erscheinung und wird als tendenziell dissonant wahrgenommen. Hier geht es demnach eher um das Füllen von Lücken, die die kommunistische Ideologie seinerzeit geschaffen hat, oder um die Demonstration demokratischer Prinzipien und multikultureller Ideale.