Am 12. März 2024 kamen im Jüdischen Museum Frankfurt am Main Vertreter:innen verschiedener Wissenschaftsdisziplinen und Akteur:innen aus der Praxis Sozialer Arbeit zu einem Austausch über „Jüdische Wohlfahrtspflege gestern und heute“ zusammen. Die Veranstaltung fand im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms „Jüdisches Kulturerbe“ (SPP 2357) statt, an welchem die Hochschule München (HM) und das Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen (STI) mit dem Projekt „Soziale Verantwortung im Judentum in Deutschland: Traditionen und Orte als Jewish Heritage?“ beteiligt sind. Organisiert wurde die Tagung in Kooperation mit der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e. V. (ZWST). Lange schon wurde vom Arbeitskreis Jüdische Wohlfahrt (AKJW), angesiedelt am STI und Mitorganisator der Veranstaltung, forciert, die Lücke in der Geschichte des Judentums in Deutschland zu schließen und endlich auch das Soziale – insbesondere die Wohlfahrtstradition – zu erforschen. Eine Etappe in diesem Vorhaben wurde bereits mit der grundlegenden Aufarbeitung der Geschichte der Zentralwohlfahrtsstelle anlässlich ihres 100jährigen Bestehens 2017 erreicht. In einem daraus hervorgegangenen Band benannte Michael Brenner als weiteren Schritt, den die historische Forschung nun gehen müsse, eine „alternative Geschichte des deutschen Judentums“ zu schreiben. Die ZWST sei hierbei der „unbesungene Held“ dieser Geschichte von existenzieller Not und Armut und sie gelte es nun als zentralen Akteur der jüdischen Bevölkerung im postnationalsozialistischen Deutschland bekannter zu machen.
Jener 1917 gegründete Dachverband der jüdischen Wohlfahrtspflege in Deutschland baute zukunftsorientiert auf das im 19. Jahrhundert entstandene breite Wohlfahrtsnetz an Vereinen und wohltätigen Einrichtungen auf, um vor allem im Nachgang des Ersten Weltkrieges flächendeckend Hilfe für notleidende Jüdinnen und Juden organisieren zu können. Der ZWST-Geschäftsführer Aron Schuster erinnerte daher zu Beginn der Konferenz an dieses Erbe und das 2017 ins Auge gefasste Vorhaben und verwies im gleichen Atemzug auf das Verdienst der ZWST, seit dem Ende des Ersten Weltkrieges auf die enorme Hilfsbedürftigkeit der Juden in diesen Krisenzeiten reagiert zu haben. Das Selbstverständnis ihres Handelns, so Schuster, folge traditionell der jüdischen Sozialethik, vor allem dem Leitgedanken der jüdischen Wohlfahrtspflege: der Zedaka. Wie die ZWST für Generationen von Jüdinnen und Juden trotz und gerade im Angesicht diverser Herausforderungen strukturierte Hilfe leistete, gelte es weiter zu ergründen, so Schuster, womit er das erklärte Ziel der Tagung herausstellte. Die helfenden Hände der aktuellen Praxis, die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen und ihr gesamtes soziales Umfeld, sollten auch mit der Geschichte der ZWST vertraut gemacht werden, als deren Gedächtnis ihr Präsident Abraham Lehrer bereits 2021 den AKJW gewürdigt hatte. Ein weiteres Ziel des Dialogs zwischen Wissenschaft und Wohlfahrtspraxis war, in der historischen Forschung Impulse zu setzen und hierfür ausgehend von der aktuellen Praxis der jüdischen Sozialarbeit Fragestellungen zu entwickeln.
Lucia Raspe (STI) und Gerd Stecklina (HM), die das Projekt gemeinsam leiten, betonten einleitend aus Sicht der laufenden Forschung an ihren Institutionen die jüdische Wohlfahrtspflege in Deutschland als einen wesentlichen Teil des jüdischen Kulturerbes, das gegenwärtig kritisch diskutiert wird. Raspe wies auf die Notwendigkeit hin, das Organisationswesen in der jüdischen Wohlfahrtspflege insgesamt zu erforschen, um auch aus der Geschichte der ZWST Strategien für die zukünftige Praxis der jüdischen Sozialen Arbeit ableiten zu können – dies unter Berücksichtigung der Wahrnehmung jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerungsteile in Vergangenheit und Gegenwart. Stecklina wiederum sensibilisierte insofern für ein reflektiertes Verständnis von Wohlfahrtspflege, als er die terminologischen Differenzierungen aus der Disziplin der Sozialen Arbeit auf die spezifische Situation des Sozialen im Judentum hin befragte. Demgemäß gehe im jüdischen Bereich das Soziale über ein fachlich weithin geteiltes Grundverständnis Sozialer Arbeit hinaus, da sie dort nicht auf Maßnahmen zur Unterstützung notleidender und sozial gefährdeter Menschen reduziert werden könne. Er betonte den Aspekt der nicht diskriminierenden Hilfe, der wiederum in der jüdischen Sozialethik fest verankert sei. Auch Stecklina hob hier die Zedaka als Wurzel jüdischer Wohlfahrtspflege hervor, die im Sinne Leo Baecks jeder Jüdin und jedem Juden Anspruch auf Hilfe und somit auf den unverbrüchlichen Liebesbeweis seitens der Gemeinschaft erlaube.
Norman Böttcher, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Teilprojekts an der HM, gab als Mitorganisator der Tagung im Panel „Jugend“ Einblicke in die Geschichte der Jugendarbeit der ZWST, die sich stets in vielfachen Spannungsverhältnissen bewegte. Schon im Zuge ihrer Gründung während des Ersten Weltkrieges waren Konflikte entstanden, die sich aus dem schlussendlich namengebenden Anspruch der Zentralisierung (in) der Wohlfahrtspflege und dem Selbstbildungsanspruch der jüdischen Jugendbewegungen ergaben. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sie für die vielzähligen notleidenden Kinder und Jugendlichen, die aus Osteuropa geflohen waren, umfangreiche, auf ihre Migrationserfahrung spezialisierte Hilfen anbieten können. Auch nach dem Nationalsozialismus (NS) blieben Migrationsfragen für die wieder aktiv aufgenommene Jugendfürsorge wie -pflege insbesondere für erneut zahlreich aus dem osteuropäischen Raum Migrierte, aber auch für die enge Bindung an den neugegründeten jüdischen Staat, von Relevanz. Von Beginn an zeichneten demnach Maßnahmen zur Integration im Zusammenhang von Migration die Jugendarbeit der ZWST aus, welche stark auf Selbstorganisation und -bildung abzielte. Gerade in Krisenzeiten konnten auf diese Weise Ressourcen geschont werden.
Laura Cazés, Leiterin der Abteilung Kommunikation und Digitalisierung bei der ZWST, berichtete anschließend aus der gegenwärtigen Praxis der ZWST-Jugendarbeit. Sie hob hervor, warum die Machanot (die Kinder- und Jugendfreizeiten) zuvörderst als informelle Jugendbildungsangebote zu verstehen seien: Sie böten Schutzsphären und Räume jüdischer Erfahrung und seien somit Inkubatoren jüdischer Identitätsbildung. Derzeit herrsche jedoch unter vielen jüdischen Heranwachsenden nicht nur eine Unsicherheit hinsichtlich ihrer Glaubenszugehörigkeit, so Cazés. Zudem erführen sie alltäglich die Diskrepanz zwischen der reichen jüdischen Kultur ihrer Vorfahren und der Zäsur der Shoa. Überdies seien die Jugendlichen – aktuell wieder vermehrt – konfrontiert mit anhaltenden Fremdzuschreibungen und Feindseligkeiten sowie der Erfahrung, dass es nirgends mehr – nicht einmal in Israel – ein Gefühl von Sicherheit gebe. Umso relevanter sei das Angebot geschützter Räume des Miteinanders, in denen Heranwachsende nicht in Erklärungsnot gerieten, sondern wo ihre jüdische Identität auch dahingehend gestärkt werde, dass all diese Phänomene, verstanden als kollektive Erfahrungen, gemeinsam bewältigt werden könnten.
In der anschließenden Diskussion wurde die jüdische Jugendarbeit unter Einbeziehung der historischen Dimension als eine Facette jüdischen Kulturerbes diskutiert: Bereits Harry Maór, erster Jugendreferent der ZWST und gewissermaßen ein Universalgelehrter (Judaist, Historiker, Soziologe, Literaturwissenschaftler, Übersetzer), hatte die frühe Jugendarbeit der ZWST nach ihrer Wiedergründung unter dem Vorzeichen jüdischer Nicht-Identifikation konzipiert. Bildung zur (jüdischen) Autonomie war dabei oberstes Erziehungsziel. Zugleich legte die Diskussion offen, dass sich die einstige, in die Frühphase datierende Spannung zwischen der ZWST-Führung mit den Jugendbewegungen womöglich noch immer nicht aufgelöst habe.
Im anschließenden Panel zur Migration befasste sich Franz-Michael Konrad, Emeritus für Historische und Vergleichende Pädagogik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, mit dem untrennbaren Zusammenhang von Wanderungsbewegungen im Judentum und ihren Auswirkungen auf die Entwicklung der Armenhilfe. Damit griff er einen zentralen Hilfebereich der Vor- und Frühgeschichte der ZWST auf. Die jüdische Zuwanderung hatte bereits in den 1880ern begonnen. Durch die Pogrome im Zuge der Oktoberrevolution 1918 wurden weitere Juden und Jüdinnen zur Emigration aus Osteuropa gezwungen. Gegen den in diesem Zusammenhang neu entstandenen Antisemitismus gründeten Juden sowie solidarische Nichtjuden zu dieser Zeit Abwehr- und Hilfsvereine. Konrad zufolge lag die innerjüdische Herausforderung für die Gründungsmütter und -väter hierbei darin, die unterschiedlichen Mentalitäten mit der vorherrschenden deutsch-jüdischen Kultur zu vereinbaren, ohne dabei der eigenen Integrationsleistung, so ihre damalige Selbstwahrnehmung, verlustig zu gehen oder antisemitischen Kräften eine Angriffsfläche zu bieten. Angesichts weiterer, durch den NS bedingter sowie nachfolgender Aus- und Zuwanderungsprozesse habe sich in der Praxis der ZWST daher stets bewährt: Remigrant:innen halfen Remigrant:innen.
An diese Erfahrung knüpfte auch Günter Jek an, Leiter des Berliner Büros der ZWST und innerhalb der Organisation zuständig für die Politikfelder Migration, Integration und soziale Sicherungssysteme. Wie herausfordernd die Arbeit der ZWST im Vergleich zu den nichtjüdischen Wohlfahrtsverbänden trotz ihres seit den 1990er Jahren besonders in den östlichen Bundesländern stilprägenden Strukturaufbaus insbesondere in finanzieller Hinsicht ist, legte Jek eindrücklich offen. Gründe hierfür reichten bis in die Zeit vor der rechtlichen Gleichstellung der Juden 1871 zurück. Nach der Zeit des NS habe eigenes Vermögen zur jüdischen Wohlfahrtspflege gefehlt – ein historisches Strukturproblem, das Jek auch anhand aktueller Beispiele veranschaulichte. So seien etwa gerade Bildungs- und Begegnungsstätten, die Einnahmen generieren könnten, kaum vorhanden. Aber auch andere strukturelle Probleme durchzögen diese jüdische Geschichte bis in die Gegenwart. Obgleich heute durch Remigrant:innen eine vorbildgebende Infrastruktur sozialer Hilfen zugunsten neuer Zuwanderer geschaffen worden sei, werde die derzeitige Arbeit nicht selten zu Ungunsten der sogenannten Kontingentflüchtlinge geleistet. Die jüdischen Zuwanderer der 1990er Jahre, die nach ihrer Ankunft in Deutschland in einem erheblichen Maße von der Entwertung ihrer Bildungsabschlüsse und demnach auch von hoher Erwerblosigkeit betroffen waren, seien nun in eklatanter Weise von Altersarmut bedroht. In der anschließenden Diskussion fanden demgemäß Fragen zum engen, epochenübergreifenden Zusammenhang von Antisemitismus und Migration Gehör – auch dazu, welche Auswirkungen die hohe Bedeutung der Migration innerhalb der ZWST auf ihren Professionalisierungsgrad hat. Dabei sei das Verhältnis von bezahlter und ehrenamtlicher Sozialer Arbeit mit diesem nicht gleichbedeutend. Wie Cazés festhielt, übersteigt der auch gegenwärtig hohe Bedarf einerseits die (historisch bedingt zu geringen) finanziellen Ressourcen. Andererseits seien unter den Ehrenamtlichen zahlreiche aktiv, die nur nach dem deutschen Zertifikatssystem nicht als Professionelle gälten, wenngleich sie für die besonderen Bedarfe der ZWST unabkömmlich seien und teilweise nur formal ‚nachqualifiziert‘ werden müssten. Hierfür erhielten sie jedoch keine Förderung.
Aufschlussreich hinsichtlich der Frage, inwiefern die aktuelle Praxis der ZWST-Aufgabenbereiche und die Tradition jüdischer Wohlfahrt innerhalb der Gemeinden als jüdisches Kulturerbe zu betrachten sei, war die unterschiedliche Priorisierung von technischen, geistlichen und sozialen Tätigkeiten, welche Cazés in Bezug auf die „Hierarchie in der hauptamtlichen Besetzung professioneller Kräfte“ betonte: Wenn in kleinen jüdischen Gemeinden entschieden werden müsse, welche hauptamtliche Kraft die wichtigste sei, werde die Entscheidung gegen eine professionelle hauptamtliche Geschäftsführung und sogar gegen einen hauptamtlich allein in dieser Gemeinde beschäftigten Rabbiner für eine professionelle Fachkraft aus der Sozialen Arbeit fallen. An dieser Stelle sei die Gemeinde als sozialer Empfangs- und Versorgungsraum von höherer Priorität als die religiöse Infrastruktur. Vor dem Hintergrund der Bedeutung jüdischer Sozialer Arbeit für die Gemeinden auch nach 1945 herrschte Konsens, dass zur ZWST im Grunde alles noch erforscht werden müsse: „Es existiert ja keine Geschichte der Zentralwohlfahrtsstelle“, so Konrad.
Den zweiten Teil der Fachtagung eröffnete das Panel „Selbstermächtigung und betroffenenbezogener Umgang mit Antisemitismus“. Hatte Böttcher bereits auf die Publikationstätigkeit der ZWST hingewiesen, in der sich bis heute ihr Umgang mit antijüdischen Reaktionen widerspiegele, skizzierte Tilmann Gempp-Friedrich, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter der Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt, den Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) als den ersten dezidiert jüdischen Verein zur Abwehr des Antisemitismus. Voraussetzung von dessen Arbeit war dabei zunächst, eine selbstbewusste Gemeinschaft innerhalb des bis dahin politisch wie kulturell überaus diversen Judentums in Deutschland herzustellen, mit der sich die Juden mehrheitlich hätten identifizieren können. Ausgehend von einem grundlegenden Vertrauen in den liberalen Verfassungsstaat hatten die Presseorgane des CV der jüdischen Bevölkerung in der Weimarer Republik eine Plattform zur Identitätsbildung und stärkung geboten, auf der nicht zuletzt auch die jüdische Wohlfahrt beworben werden konnte und die ein zentrales Element der Vereinsarbeit darstellte.
Marina Chernivsky, Leiterin des Kompetenzzentrums für antisemitismuskritische Bildung und Forschung in Trägerschaft der ZWST sowie Geschäftsführerin von OFEK e.V. (Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung), zeigte sich zunächst überrascht ob der Gemeinsamkeiten zwischen der Zielsetzung des CV und der in ihrer Verantwortung befindlichen Organisationen. Sie begriff den in der Gegenwart anhaltenden Antisemitismus als ein Problem der Mehrheitsgesellschaft und appellierte dafür, die Erfahrungen jüdischer Akteur:innen bei der Auf- und Bearbeitung antisemitischer Agitation sowie in der Präventionsarbeit noch stärker einzubeziehen. Über viele Jahre hinweg sei Juden in der politisch-öffentlichen Sphäre ihre Handlungsmacht entzogen worden. Zugleich werde hierbei die Herstellung der Ermöglichungsbedingungen jüdischer Selbstermächtigung einseitig in der Verantwortung der Opfergemeinschaft gesehen. Die Zäsur des 7. Oktober 2023 bestehe in Deutschland insbesondere in der Ignoranz, Passivität und Einfühlungsverweigerung der umgebenden Gesellschaft bis hin zu explizitem Hass, die Jüdinnen und Juden hier umgäben. Antisemitismus erfülle hierbei eine Brückenfunktion für unterschiedliche politische Lager, was Chernivsky dazu veranlasste, seine im Vergleich zu anderen Diskriminierungsformen besondere Funktionsweise hervorzuheben und die Geschichte der Antisemitismusforschung knapp zu skizzieren.
Zum Einstieg in das abschließende Panel, eine Podiumsdiskussion zur „Gemeindeentwicklung in historischer und aktueller Perspektive“, stellte Harald Lordick, Sozialwissenschaftler am STI und langjähriges Mitglied des AKJW, die Organisation der ZWST in ihrer Frühphase vor, als im Wesentlichen ein kleines operatives Team insbesondere von Frauen den bis in alle lokalen Zweige hinein 170.000 Mitglieder zählenden Verband zu organisieren wusste. Mit dem Ziel, flächendeckend und wissensbasiert jüdische Wohlfahrtspflege zu gewährleisten, hatten bald auch zentralisierte Lösungen angeboten werden können, die über lokale Problemzusammenhänge hinausgingen. Ihr Selbstverständnis als zentraler Akteur für die Wohlfahrt der jüdischen Bevölkerung in der Weimarer Zeit hatte die ZWST 1926 in Düsseldorf auf der GeSoLei, der „Großen Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen“ demonstriert, und sich damit zugleich als gleichberechtigter Teil der freien Wohlfahrtspflege gezeigt. Davon ausgehend, akzentuierte Lordick dann grundsätzlicher die Integration von jüdischer Wohlfahrts- und Sozialpolitik – im Sinne einer sozialen und sozialpolitischen Teilhabe – im Weimarer System: die ZWST in der Zusammenarbeit mit nichtjüdischen Organisationen und öffentlichen Einrichtungen bei gleichzeitiger organisatorischer Eigenständigkeit. Die hohe Professionalität wie Flexibilität in Organisation und Vernetzung zeigte sich dann verstärkt unter denkbar gegenteiligem politischem Vorzeichen in den Maßnahmen zur land- und hauswirtschaftlichen Berufsausbildung für die jüdische Jugend, als sich diese vor dem NS in Sicherheit bringen und ein neues Leben im Ausland aufbauen musste.
Sabine Hering, emeritierte Professorin der Universität Siegen mit den Schwerpunkten Sozialpädagogik, Gender und Wohlfahrtsgeschichte, veranschaulichte am Wirken und dem Werk des bereits genannten Harry Maòr (1914–1982) die Reorganisation jüdischer Sozialer Arbeit nach 1945. Überzeugt von der außergewöhnlichen Bedeutung deutsch-jüdischer Kultur, hatte Maòr selbst nach der Shoa in seiner bis heute unveröffentlichten Dissertation die Herkunft und soziologische Spezifik der nach 1945 in Deutschland verbliebenen, verarmten und traumatisierten Jüdinnen und Juden erforscht. Er fragte nach den Umständen ihres Überlebens und ihren Identifikationsmöglichkeiten in der postnationalsozialistischen Bundesrepublik – eine Perspektive, die er in seinem heute in der Disziplin fast gänzlich vergessenen Spätwerk, der „Soziologie der Sozialarbeit“, erneut aufgriff. Auch seine Dissertation über den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden harrt noch immer eines Echos aus der gegenwärtigen Forschung, wobei Maòrs Blick auf die Nachkriegsgesellschaft umso bedeutsamer sein mag, als er schon darin die Frage aufgeworfen hatte, was Judentum nach der Shoa und fernab der Reduktion auf die Halacha (noch) sei und wer diesem angehöre. Entsprechend blieb für die jüdische Soziale Arbeit die Frage relevant, wer eigentlich Anspruch auf Hilfe der ZWST habe.
Aron Schuster stellte abschließend zur Diskussion, wie künftig differenzierter und angesichts offensichtlich wiederkehrender Krisen und des anhaltenden vielfältigen Hilfebedarfs auch weiterhin verlässlich professionelle Soziale Arbeit seitens der ZWST geleistet werden könne, um deren materielle Ressourcen es historisch bedingt schlecht bestellt sei und die sich überdies ebenfalls im permanenten Bemühen um Fördermittel wiederfinde. Er skizzierte erste Maßnahmen der Umstrukturierung und eine intern fein koordinierte Arbeitsteilung auch angesichts des wachsenden Bedarfs an humanitärer Hilfe – nicht mehr allein im Ausland, sondern prospektiv auch innerhalb der jüdischen Gemeinden Deutschlands.
Konsens herrschte unter den Expert:innen aus Wissenschaft und Praxis im Hinblick auf notwendige Strategien für die Zukunft der jüdischen Sozialen Arbeit in Deutschland (und über seine Grenzen hinaus) hinsichtlich der These von der noch ungeschriebenen Geschichte der ZWST: Auch die Geschichte der jüdischen Wohlfahrt in Deutschland im Allgemeinen bleibt weiter zu erforschen. Die Leistungen jüdischer Wohlfahrtsorganisationen und -einrichtungen und das soziale Engagement der dahinterstehenden Akteur:innen sowie die seit nunmehr über 100 Jahren geleistete Arbeit der ZWST versteht das SPP-Teilprojekt „Soziale Verantwortung im Judentum“ als wegweisend für die weitere wohltätige Praxis und als eine ausgeprägte Facette jüdischen Kulturerbes in Deutschland.
Michelle Stoffel und Norman Böttcher
Michelle Stoffel
Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte, Universität Duisburg-Essen
Norman Böttcher
Hochschule München
Mehr Informationen zum beteiligten Teilprojekt Soziale Verantwortung im Judentum in Deutschland: Traditionen und Orte als Jewish Heritage? finden sie hier.
19. August 2024